Ein Pflegewohnheim ist nicht gerade der romantischste Ort, den wir uns vorstellen können. Warum eigentlich nicht? Hat die Liebe hier keinen Platz? Auch mit Sexualität scheinen hier wenige offensichtliche Verbindungen zu bestehen. Dabei legen wir unsere Herzen und Bedürfnisse beim Durchschreiten der Türe in ein Pflegewohnheim nicht einfach ab wie Jacke oder Hut. Unsere Fähigkeit zu Begehren nehmen wir mit bis auf unsere Zimmer. In diesen vier Wänden findet für immer mehr Menschen das weitere Leben statt. 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche. Häufig bis zum Lebensende. Es ist eigentlich ganz klar, dass wir uns auch auf dieser letzten Reise über glückliche, lustvoll erlebte & aufregende Momente freuen. Schließlich sollen wir lebendig sein, solange wir leben (Prof. Erwin Böhm).
Die diplomierte psychiatrische Gesundheits- und Krankenschwester Anja Lipusch, die auch in leitender Funktion auf einer Demenzstation in einem Pflegeheim tätig ist, hat uns wieder einmal mit einem Beitrag zum Thema Alter und Sexualität bereichert.
Liebe und Beziehungen im Pflegealltag. Wie gehen wir’s an?
Im Bereich der Pflege und Betreuung von älteren Menschen sind Konzepte, Leitlinien oder dergleichen in Bezug auf Sexualität (noch) rar. Demnach gibt es viele individuelle Zugänge. Die sind dann oft von den Einstellungen und dem Engagement von einzelnen Mitarbeiter*innen abhängig. Im schlechtesten Fall für alle Beteiligten gibt es keinen bewussten Zugang zum Thema, Bedürfnisse oder Probleme werden ignoriert, oder als wenig wichtig eingeschätzt.
So einfach ist es ja auch gar nicht, sich dem Thema Sexualität im Pflegewohnheim zu stellen. Schließlich bringt jede*r einzelne Mitarbeiter*in ihre*seine persönliche Geschichte und Erfahrung mit. Alle Bewohner*innen sind verschieden. Außerdem bewegen wir uns im pflegerischen Alltag an intimen Körperbereichen, wenn zB jemand ohne fremde Hilfe nicht mehr die Toilette benutzen kann. Pflegen heißt immerhin berühren und kommunizieren und dadurch treten wir mit unserem Gegenüber in Beziehung.
Ein einheitliches, einfaches Rezept für den Umgang mit Sexualität im Pflegewohnheim kann es daher nicht geben. Aber es gibt sehr wohl sicheres Wissen, einige wesentliche Prinzipien und kreative Ideen, die dabei unterstützen können.
So ist es zum Beispiel wichtig, bei der Betreuung von älteren Menschen deren individuelle Lebensgeschichten zu kennen.
Umgang mit Körperpflege
Zu wissen, was einen Menschen denn so geprägt hat, kann enorm hilfreich ein. Wenn wir außerdem über die Zeitgeschichte hinsichtlich der Werte, Haltungen und Praxis der Sexualität Bescheid wissen, fördert das unser Mitgefühl. Es erweitert unser Verständnis, unsere Toleranz für die „Eigenheiten“ der uns anvertrauten Menschen. Außerdem kann das auch unsere persönlichen „Eigenarten“ in einem anderen Licht erscheinen lassen.
Ist doch erleichternd, gut und gesund zu wissen, dass Fr. Huber sich nicht jeden Tag waschen lassen möchte, weil sie die Pflege, oder gar mich persönlich ablehnt, sondern weil sie von früher gewohnt ist, nur einmal in der Woche zu baden. Und so haben schließlich auch wir in der Betreuung die Chance, ein offenes Gesprächsklima mitzugestalten.
Oft sind es eben diese scheinbaren Kleinigkeiten, die in Pflegewohnheimen in Bezug auf Sexualität Großes bewirken können.
Die Sache mit der Privatsphäre
Wir platzen in ein Zimmer, ohne anzuklopfen, oder haben nicht die Zeit auf ein „Herein“ zu warten, lassen die Toilettentüre geöffnet, entblößen bei der Körperpflege den gesamten Leib und denken kaum mehr daran, was die Person da wohl gerade fühlt.
Ein prüfender Blick von außen kann guttun. Wenn dann noch Raum ist, um sich mit Kolleg*innen professionell austauschen zu können, haben die Bewohner*innen und wir schon gewonnen. So lässt es sich kreativ sein und die richtige Würze für die Bedürfnisse von Bewohner*innen finden. Dann wird es evtl. auch normal, dass Herr Maier und Frau Huber ihre Betten gerne zusammenstellen würden, wir sie dabei unterstützen und ihnen eine wertschätzende Sprache entgegenbringen können.
Die Grenzen des Pflegepersonals
Natürlich gibt es aber auch für Mitarbeiter*innen Grenzen, zB anzügliche Bemerkungen, das Gefühl von jemandem belästigt zu werden etc. Das ist nachvollziehbar und das Wahrnehmen dieser Grenzen ist gut und wichtig. Nur so kann dafür gesorgt werden, dass diese eingehalten werden.
Fragen wir uns doch einmal selbst: Was wäre uns auf unserer letzten Reise wichtig? Was ist für mich in Bezug auf Sexualität normal? Wie möchte ich gerne betreut werden? Wie würde es sich für mich anfühlen, wenn ständig fremde Leute ungefragt in meine Wohnung eintreten?
Wenn wir Antworten dazu haben, versteht es sich von selbst, dass wir uns mit allen Facetten der Sexualität und des „Sich als Mann*/Frau* Fühlens“ beschäftigen müssen. Ein gemeinsames Konzept über den Umgang mit Liebe und Beziehungen im Pflegeheim kann dabei hilfreich sein und den Pflegealltag erleichtern und beleben.
Ein praktisches Beispiel gibt Anja Lippusch noch mit einer beispielhaften Geschichte von Frau Huber und Herrn Maier aus dem Pflegealltag.
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